Zeltstädte
Mein Name ist Ahmad, ich bin 29 Jahre alt und stamme aus Syrien.
In meiner Heimat habe ich Journalismus studiert. Seit zwei Jahren lebe ich in Deutschland. Ich habe hier einen Aufenthaltstitel und einen Job bekommen.
Nur wenige Leute mit ähnlichem Schicksal teilen mein Glück. Ich kann zwar nicht als Journalist arbeiten, habe aber deshalb das Schreiben nicht aufgegeben.
Es hilft mir, meine Gedanken zu ordnen, die vielen Dinge, die mir im Kopf umhergehen, zu benennen, zu formulieren und damit ein bisschen von mir losgelöst zu betrachten – als etwas, das zwar mit mir und meiner Geschichte zusammenhängt, aber dennoch auch ohne mich existiert, eine gewisse Allgemeingültigkeit besitzt.
In erster Linie sind es Fragen, die aufkommen, wenn ich schreibe.
Ich erwarte nicht, die Antworten zu finden.
Das ist die Aufgabe von religiösen Menschen. Zu ihnen zähle ich mich nicht.
Es reicht mir, meine Fragen mit anderen zu teilen.
Das Festival
Mein Chef in dem IT-Unternehmen, in dem ich seit einem Jahr arbeite, hat mir über seine Kontakte eine Karte für das Fusion-Festival organisiert. Die Karten sind heiß begehrt und in der Regel schon Monate im Voraus ausverkauft.
Ausgedrückt in deutscher Umgangssprache, die ich inzwischen ganz gut beherrsche, ist mein Chef ein cooler Dude. Durch ihn habe ich sehr viele Chancen bekommen. Das war nicht immer so.
Doch jetzt erst mal zur Fusion: Ich hatte eine großartige Zeit.
Das hätte ich im ersten Moment nicht erwartet, denn die Polizeikontrolle, in die mein Chef, seine Freundin und ich während der Anreise kurz vor dem Festival gerieten, war keine so angenehme Erfahrung. Als die ostdeutschen Beamten meine Papiere durchsahen, wussten sie zunächst nicht, was sie damit anfangen sollen. Sie mussten erst per Funk Rücksprache mit ihren Vorgesetzten halten.
Das hat sich lange hingezogen. Mein Chef, seine Freundin und ich wurden 22 Stunden auf dem Revier festgehalten, bis die Polizisten endlich Bescheid wussten, dass mein Aufenthaltsstatus in Deutschland legal ist. Wahrscheinlich waren sie auf so einen Fall wie mich nicht vorbereitet gewesen. Ihr Auftrag war nach Drogen zu fahnden, und nicht die deutsche Bevölkerung vor Arabern mit dubiosen Papieren zu beschützen.
Eine Etappe vorher, am Leipziger Hauptbahnhof, hatten wir bereits miterlebt, wie der komplette Bahnhof wegen eines einzelnen, scheinbar herrenlosen Rucksacks evakuiert worden war. Dabei war die Rede von akuter Terrorgefahr.
Andere Flüchtlinge gab es nur wenige auf der Fusion, doch ich habe ein paar getroffen. Vor allem aber gab es zahlreiche Infostände von nichtstaatlichen Organisationen, die hier ihr Engagement in der Flüchtlingshilfe, dem Palästinakonflikt oder dem Datenschutz präsentieren. Die vielen Stände und Bühnen auf dem weitläufigen Gelände werden tagsüber von Pickups und Kleinlastern beliefert. Viele von ihnen zieren Banner mit Sprüchen, die zu einem humaneren Umgang mit Flüchtlingen in Europa aufrufen.
Mit Graffiti übersäte PKW’s fahren Menschen von einem zum anderen Ende des weitläufigen Areals, einem ehemaligen Militärflugplatz in Privatbesitz.
Die meisten der Fahrzeuge dürfen nur hier fahren, denn ihr TÜV ist längst abgelaufen.
Das Festival ist bekannt dafür, dass hier viele Drogen konsumiert werden.
Schnell wird klar, dass das kein Gerücht ist. Schon die ersten Zelte hinter dem Eingang tragen handbemalte Pappschilder, die zum Tauschgeschäft aufrufen: „Biete Gras, suche MDMA“. „Biete Amphe, suche Trip“. Und so weiter.
Zwischen all den Zelten, die sich hier dicht an dicht auf dem riesigen, umzäunten Gelände drängen, noch einen freien Platz zu finden, war nicht einfach für uns, zumal wir erst am zweiten Tag ankamen. Vor den Toiletten haben sich wie bei Festivals so üblich lange Schlangen gebildet, doch die Klos sind gepflegter als erwartet.
Mit grölenden Betrunkenen hat man es auf der insgesamt 6-tägigen Veranstaltung überhaupt nicht zu tun. Obwohl natürlich auch Alkohol konsumiert wird.
Als es am Tag unserer Ankunft zu dämmern beginnt, verwandelt sich das Gelände langsam in ein buntes Lichtermeer. Leuchtende Dekoelemente, Pyroeffekte und Bühnenscheinwerfer machen dabei nur einen Teil dieses Eindrucks aus. Die wogende Oberfläche des breiten Lichterstroms, der sich Strudel bildend durch die Deko ergießt, bilden zahlreiche blinkende und funkelnde Leuchtelemente, die an langen Stäben hoch über den Köpfen der Leute hinweggetragen werden und den einzelnen Besuchergruppen als Orientierungsfixpunkte dienen.
Bei der individuellen, kreativen Gestaltung ihrer Leuchtstäbe, die von Feuerquallen über Ufos hin zu abstrakten Gebilden reicht, sind dem Einfallsreichtum der Festivalteilnehmer scheinbar keine Grenzen gesetzt.
Die Konzerte sind bombastisch, sowohl was die Soundqualität als auch die Menge an Zuschauern betrifft.
Leider war es uns selten möglich, einem der Main Acts näher zu kommen als auf einen Abstand hin, bei dem die Bühne wie ein weit entferntes, blinkendes Raumschiff mit winzigen, gestikulierenden Ameisen an Bord erscheint.
Das Lineup der Fusion wird nicht im Vorhinein bekannt gegeben. Es ist Verlaß darauf, dass die gebuchten Bands zur Elite der deutschen Indie-Popkultur gehören.
Sechs Tage lang leben hier rund 80000 Menschen in einer Zeltstadt.
Tagsüber ist der Unterschied zu den Lagern, die ich auf meiner Fluchtroute passiert habe, rein optisch gesehen, gar nicht so groß. In der französischen Küstenstadt Calais wirkte die Art und Anordnung der Zelte ganz ähnlich.
Wahrscheinlich gleichen sich beide Orte in der intuitiven Vorgehensweise im Prozess des natürlichen, organischen Städtebaus. Es gibt zentrale Hauptstraßen, an die sich die Versorgung in Form von Essens- und Getränkeständen angliedert, in Parzellen aufgeteilte „Wohnviertel“ – weitläufige Zeltplätze, die im Vergleich zu den belebten Sammelplätzen auf dem Gelände eine unausgesprochen offenkundliche Ruhezone darstellen (auch wenn die Bässe der rund um die Uhr bespielten Lautsprecher niemals nicht zu hören, bzw. zu „spüren“ sind). Doch die Leute auf der Fusion sind in das Lager gekommen, um zu feiern. Die Leute in Calais nicht.
Calais
Manche Menschen, denen ich abends in der Zeltstadt von Calais, genannt „the Jungle“, begegnet bin, verhielten sich wie Menschen, die auf eine Party gehen. Sie hatten ein nahezu fanatisches Funkeln in den Augen, wie in Erwartung auf ein vielversprechendes Event, auf das man schon lange wartet. „This is my first time to go on a try“, sagte ein junger Mann aus Afghanistan, dem ich mein Mikrofon vors Gesicht hielt, mit strahlendem Lächeln. „I look forward to it“.
Andere wiederum, vor allem diejenigen, die schon seit Monaten, Jahren, im Camp verweilen, verbinden mit ihrem nächtlichen Vorhaben ganz andere Emotionen. Resignation. Angst. „To take a chance“, nennen sie es auch, was sie tun.
Doch Chancen gibt es nur sehr wenige.
Bei der „Chance“ oder dem „Try“, der nächtlichen Aktivität, um die sich alles im Dschungel von Calais dreht, versuchen die Flüchtlinge, unbemerkt nach England zu gelangen. Für viele ist es das einzige Land in Europa, in dem sie ohne Aufenthaltsgenehmigung Arbeit auf dem Schwarzmarkt zu finden hoffen.
Die meisten haben jahrelang erfolglos in anderen Ländern Europas versucht, Asyl zu bekommen.
Mit Feuerbarrikaden stoppen sie nachts auf der Autobahn die Transportlaster, die auf dem Weg zur Fähre ins Vereinigte Königreich sind, und versuchen, unbemerkt auf die Ladefläche zu klettern.
Oder sie versuchen, auf Güterzügen durch den Eurotunnel zu gelangen.
Jede Nacht aufs neue, fast immer erfolglos, zum Teil jahrelang. Es ist sehr gefährlich. Ich habe Leute sich dabei verletzten und sterben sehen.
Die Lastwagenfahrer müssen hohe Strafen zahlen, wenn sie mit Flüchtlingen an Bord erwischt werden. Zusätzlich hat sich die französische Regierung England gegenüber in bilateralen Deals verpflichtet, illegale Grenzübertritte zu verhindern. Dies versucht sie mit Polizeigewalt. Unter Einsatz von Knüppeln, Tränengas und Gummigeschossen. Dass dabei auch viele Minderjährige unter Beschuss geraten, wird nicht berücksichtigt.
Ein vierzehnjähriger Junge hat dabei eine Narbe von der Stirn bis in den Nacken kassiert. Und einen bleibenden Hirnschaden.
Einen Hirnschaden kann man sich auch beim Drogenkonsum holen. Allerdings scheint dieser Gefahr nur eine Minderheit der Fusion-Besucher ausgesetzt zu sein. Die meisten Leute gönnen sich einen mentalen Trip vom Alltag, den sie am nächsten Montag unbeeinträchtigt fortsetzen. Mit mehr Alkohol statt anderen Drogen wären sie wahrscheinlich zerstörter. Und während des Festivals weniger friedlich und freundlich zueinander. Und hätten weniger bleibende Erinnerungen an das Festival. Dass bei den Wenigsten dazu die Infostände zählen, ist dem hedonistischen Wesen eines zeitgenössischen Musikfestivals geschuldet.
Die Politik wird lieber anderen überlassen.
Text: Anna-Louise Bath
Fotos: Özlem Kinik und Anna-Louise Bath, aufgenommen in Calais, 2016